Ankunft:

Am Freitag den 23.3 steh ich abends am Flughafen. Jetzt warte ich einfach nur noch ungeduldig und voller Vorfreude darauf, dass meine Familie, die sich auf den Weg gemacht hat, um auch für kurze Zeit meine neue Welt zu entdecken und zu besuchen endlich aus dem Flughafengebäude kommt. Doch ganz ehrlich: die Tage davor hab ich meine Familie doch auch mit gemischten Gefühlen und ein paar kleinen Bedenken erwartet.
Wo sollen sie schlafen? Ist der Raum in der Wohnung nicht zu klein? Schmeckt meinen Geschwistern (vor allem meinem lieben Bruder…) das Essen hier? Soll ich schon Programm planen oder wird ihnen das eh zu viel?  Aber egal! Ich freu mich jetzt erstmal sie wieder zu sehen.

Aus der ursprünglich mal sehr unbedarft ausgesprochenen Idee: “ ja, dann besuchen wir halt eben alle mal die Lena in Indiensoll Wirklichkeit werden. Und wir als Familie, zurück geblieben in München, wollen es wagen. Zwischendurch sind wir vielleicht sogar selbst ein bisschen überrumpelt von unserem (Über)mut.

Aber wo anfangen? Bei den ersten Planungen? Bei den Erwartungen? Die bei sechs Leuten doch sehr unterschiedlich sind. Bekommen wir bei allen drei Schulen zwei Tage zusätzlich frei? Was wollen wir uns gemeinsam anschauen? Was wollen wir erleben? Schmeckt allen das indische Essen? Wie verhalten wir uns in Lenas Projekt? Und dann die ganz praktischen Dinge: wie schnell bekommen wir die Reisepässe? Wie geht das mit dem E-Visum? Wann muss wer zum Impfen und wem fehlt noch was? Wer kümmert sich um Haus und Katz? Wo und mit welchem Standard wollen wir reisen, unterkommen? Reicht uns Sleeper (einfache Liegewagenabteile) oder doch mindestens 2. Klasse mit AC (AirCondition)? Die Hauptreisezeit ist schließlich schon fast vorbei, weil es so heiß wird Mitte, Ende März und genau da wollen wir los…

Um es gleich zu sagen: es wurde eine ziemlich coole und zum Teil ziemlich anstrengende Zeit, in der meine Familie in der ersten Woche meinen Arbeitsplatz erkundet, meine Mitvolontäre kennenlernt und nicht nur die indische Kultur, sondern auch das indische Klima mit all seinen Tücken erlebt habt und in der zweiten Woche den Norden von Indien unsicher macht. Dabei haben wir Züge verpasst, in der Wüste geschlafen, Burgen erkundet und den Familienzusammenhalt ausgetestet und am Ende auf jeden Fall gestärkt.

Was für ein Familien-Abenteuer, was für eine wunderschöne Reise!  Oft waren wir gefordert und sind zwischendurch auch oft an unsere Grenzen gestoßen. Aber wie heißt es so schön, an Grenzerfahrungen kann man nur reifen und wachsen. Und gleichzeitig wird es sicher ein Erlebnis bleiben, dass wir ganz lange und fest in unserer Erinnerung behalten werden. Und das sind wir als Familie definitiv: Zusammengewachsen in einem unglaublichen Land. 

Aber von Vorne:

Ich glaube mein Papa musste erstmal schlucken, als das Gepäck am Flughafen aufgrund von zu vielen Leuten und zu wenig Platz im Jeep aufs Dach geladen und nur mit einem einfachen Seil festgebunden wurde. Da half auch meine Aussage, „das hält schon irgendwie“ und die Versicherungen unseres Fahrers, das wir uns beruhigt ins Auto setzen sollen nicht so viel. Aber gut. Das „hielt schon irgendwie“.  Die ersten Tage wurde ich dann doch immer wieder daran erinnert, dass Palmen, Kühe und Müll am Straßenrand in Deutschland wohl doch nicht ganz so alltäglich sind und man sich an 35 Grad auch erstmal gewöhnen muss.

Ja, puh, war das heiß und drückend, als wir da spätnachmittags aus dem kleinen und beschaulichen Flughafengebäude rauskommen. Und da steht unsere große Tochter, holt uns ab und erwartet uns mit weiten Armen in „ihrem“ Land,  ihrem jetzigen Leben. So souverän erklärt sie alles, kennt sich überall aus und führt uns überall ein.

Und wir staunen – über die vielen Menschen da auf der Straße, das Hupen, wie der Verkehr so selbstverständlich fließt, obwohl unglaublich viele gleichzeitig unterwegs sind, in klimatisierten VANs, in fast schrottreifen Autos, Rikschas, Motorrädern, Mofas, Fahrrädern, zu Fuß. „Und da die ganze Familie mit zwei Kindern auf dem Motorrad – habt ihr das gesehen?“

Der erste Einkauf:

Gleich am ersten Tag war dann erst mal shoppen angesagt. Der Plan: alle wollten sich was schneidern lassen. Dazu muss man aber erstmal durch die belebte Einkaufsstrasse….

Was für ein Einstieg und was für ein Spaß: auf den teilweise ziemlich klapprigen „Volo-Fahrrädern“ machen wir uns auf den Weg, die Sarah hinten drauf. Noch schnell an den „Läden“ vorbei, die Fahrradreparaturen und sonstigen Zweiradservice anbieten und wollen ein bisschen aufpumpen lassen. „Ah, der macht das jetzt nicht, na, dann weiter, geht auch so…! Ziemlich verschwitzt kommen wir eine viertel Stunde später an. Hat sich ein bisschen wie Autoscooter angefühlt, nur ohne Anstoßen. Oft ganz knapp, aber irgendwie fügt es sich immer. Man darf sich nicht zuviel umschauen, lieber einfach drauf losfahren, dann wird das schon und ein freier Weg findet sich immer, wie schmal und eng auch immer er ist.

Auf dem Rückweg verlieren wir uns dann auch noch. Während die Lena mit Sarah und Lorenz schon Richtung Flat fährt, sehe ich Frank und Moritz am Kreisverkehr in die vollkommen andere Richtung weiterfahren. Wahh, vor lauter Hupen, Klingeln, Rufen hört mich keiner. Na gut, ein bisschen von der indischen Ruhe fehlt mir eh. Dann bleibe ich einfach stehen und warte mal. Am Ende löst sich alles in Wohlgefallen auf, aber da steht auch die Erkenntnis, sechs Leute sind doch eine Menge, um die immer alle zusammen zu halten.

Im Chiguru:

Noch am gleichen Tag gings dann ins Projekt. Wieder alle mit Sack und Pack rein in den Jeep und los! Dort angekommen, wurden alle erst mal mit unverhohlener Neugierde und Begeisterung begrüßt und wieder einmal steh ich mitten drin. Auf einmal sind so viele Sachen gleichzeitig, die ich erledigen will: die Kinder wieder begrüßen und ihnen meinen Eltern vorstellen, die Sachen irgendwie in mein Zimmer buxieren, meiner Familie einen Schlüssel für ihr Zimmer besorgen und dann später: Ihnen am liebsten sofort alles zeigen.

Aber natürlich wollen auch die Kinder meine Familie kennenlernen und vorallem meine kleine Schwester wird sofort von allen in Beschlag genommen. Puh, gar nicht so leicht, gleichzeitig auf Deutsch und Telugu zu erklären, einander vorzustellen und am besten noch zu übersetzen. Achja und eigentlich wollte ich ja auch mal entspannt Zeit mit meiner Familie verbringen und einfach ratschen.

Wie schön und spannend ist es dann auch, Lenas Projekt wirklich zu sehen. Die vielen Berichte, die zahlreichen Erzählungen, die Geschichten von den Kindern, den Amas, dem Brother, Father Joce, jetzt mit eigenen Augen zu sehen. Vieles erst jetzt wirklich zu verstehen.

Mit fast 100 Kindern „Special games“ zu veranstalten und das jeden Sonntag, das muss man erstmal schaffen. 

Erst hier verstehen wir, was das bedeutet.

Wir als Familie versuchen erstmal unsere Rolle zu finden, jeder für sich und auch als Gastfamilie gemeinsam: mitspielen, unterstützen, einfach zuschauen, uns an der Begeisterung der Kinder freuen, mit der Hitze klar kommen,  uns offiziell als Gäste korrekt verhalten, miteinander Spaß haben, eintauchen in die indische Kultur und Lebensweise und das alles auf einmal.

Wir müssen lernen, wie man möglichst ordentlich mit der rechten Hand isst (die indischen Kinder lachen sich teilweise schlapp, wie wir rumpanschen), wie man sich auch ohne Telugu mit Händen und Füßen verständigt (wo sind die anderen zum Chai-trinken hin gegangen?) und zwischendurch einen Moment Ruhe für sich findet (Privatphäre ist ja in Indien eher ein Fremdwort).

Lorenz (der „größte“ Bruder) wird schon schnell als neuer Volontär akzeptiert, spielt mit den größeren Jungs Volleyball und wirbelt die Kleinen durch die Luft.

Mein nächst „kleinerer“ Bruder (Moritz) ist schon nicht mehr auffindbar, er jagt ein paar Kinder rund um die Häuser. Dass er genauso wenig Englisch spricht, wie die Kinder, spielt keine Rolle. Er ist gleichzeitig auch schon der große Bruder, mit dem man Blödsinn machen kann und Fangen spielen geht auch ohne Sprache.

Die Kleinste (Sarah) hat es am Schwierigsten und am Einfachsten zu gleich: Alle feiern sie von Beginn an, kleines, blondes, „weißes“ Mädl,

fragen sie aus und wollen sie am liebsten überall mithin nehmen. Doch wer schonmal von 20 großen und kleinen Kinder gleichzeitig angesprochen und angefasst wurde und dabei auch noch gar nix verstanden hat, der versteht, wieso meine kleine Schwester erstmal restlos überfordert war. Vollkommen zurecht. Doch irgendwann genießt sie es dann doch verwöhnt zu werden. Nicht nur die Kinder, sondern auch meine Lieblinsgsamma hätte sie am liebsten adoptiert und kümmert sich doch sehr rührend um sie.

Bei meinen Eltern sind die Kinder skeptischer, wissen erstmal nicht wie sie angesprochen werden sollen (als Brother und Sister oder doch eher Father und Ama (=Mutter). Mein Papa hilft mir im Unterricht, schaut sich aber auch die anderen Klassen mal an. Meine Mama führt zu meiner größten Bewunderung ihr Aufklärungsprojekt mit den größeren Mädels durch.

Und ich? Bin derweil irgendwo zwischen meinen täglichen Augaben und den Sorgen, dass es auch meiner Familie gut geht, es ihnen gefällt und Ihnen doch alles zeigen will. Dabei sollte ich die Zeit doch einfach genießen.

Irgendwann schaffen wir das die nächsten Tage dann auch. Gemeinsam im Krishna schwimmen gehen.

 

 

An einem der nächsten Tage haben wir die Gelegenheit genutzt, auch noch einen Blick in ein paar der anderen Einrichtungen aus dem Nava Jeevan Projekt zu werfen und waren sehr beeindruckt von der Vielfalt. Einerseits ist es natürlich heftig, zu erfahren mit welchen Hintergründen die Kinder kommen und zu sehen, wie schwer ihnen manchmal ganz normaler Schulalltag fällt und auf der anderen Seite, wie toll und gut dieses Projekt ist.

 Frank erhält sogar die Ehre, bei der Prämiere des neuen Nava-Jevaan-Films “ A home away from home“ über das Leben von Straßenkindern und den Hintergrund des Projekts die zweite Original-DVD überreicht zu bekommen  und findet auch die passenden ehrvollen Dankesworte vor dem ganzen Publikum.

Und für mich ergibt sich die Möglichkeit, einen Nachmittag für die größeren Mädels  mit dem MFM-Aufklärungsprojekt zu gestalten, wunderschön und sehr spannend.  Für die Mädels ist vieles sehr neu und gleichzeitig sind sie begierig nach möglichst vielen Infos. Es ist so bereichernd und schön zu sehen, dass es mit den Materialen international möglich ist, etwas rüber zu bringen über die Wertschätzung des eigenen Körpers und die Vorgänge im weiblichen Zyklus! Das Highlight ist dann noch ein gemeinsamer Vormittag mit Anna im BVK mit drei weiteren Gruppen, den sie in ihrem Blog beschrieben hat: https://annasherzenssache.wordpress.com/2018/03/31/koerperbewusstsein-fuer-junge-frauen

Ostern:

Ganz anders und doch so vertraut. Ostern wird hier nicht groß „gefeiert“ wie in Deutschland und trotzdem oder genau deswegen wollen wir ein paar von unseren Osterbräuchen nach Indien bringen: denn was ist Ostern ohne bunte Ostereier und Ostersuche? Also haben wir mit vereinten Kräften und vielen Händen schon die Woche davor mit den Vorbereitungen angefangen und Osternester für alle Kinder gebastelt, uns gemeinsam überlegt, was wir als Ostergeschenk hineingeben wollen und am Samstag auch noch 150 Eier gefärbt. Pünktlich zur Osternacht sind wir dann auch fertig. Die ist wiederum ganz ähnlich wie in Deutschland. Es fängt um 23:00 Uhr an, die Kinder die wollen (da viele der Kinder Hindus sind und es grad für die Kleinen auch schon sehr spät ist, wird keiner gezwungen zum Gottesdienst zu kommen) haben sich alle ihre feinsten Kleider und Hemden angezogen und alle versammeln sich draußen um ein kleines Feuerchen. Gefeiert wird auch draußen vor der Schule, der Ablauf ist genauso wie bei uns, nur eben auf Telugu. Danach gibt es noch Ostersnacks für alle, wir müssen nur noch die Osternester für die Kinder verstecken, bevor es für uns dann auch spät (oder eben früh) ins Bett geht.

Karwoche auch mal ganz anders: mit Schule bis fast zum Schluss und einem wunderschönen Ausflug auf einen Hügel am Rande vor Vijayawada am Karfreitag. Hindutempel mit bunter Lichterkette neben christlichem Kreuz ist hier so selbstverständlich, wie die Gastfreundschaft der Leute. Auf dem Weg dorthin wird uns immer wieder Wasser angeboten bei der Hitze, auf dem Rückweg werden wir sogar zweimal zum Essen eingeladen. So eine Besonderheit sind wir Weißen einfach in dieser doch sehr untouristischen Stadt.  

Und auch die Geschäftstüchtigkeit und Kreativität der Inder begeistert uns immer wieder: als Familie wollen wir die Osterkleinigkeiten für die Kinder besorgen, quasi als Gastgeschenke und gehen mit den drei Volo-Mädels in einem kleinen Fancy-Shop einkaufen. Auf ca. 15qm bekommt man alles an Krusch, was man sich nur vorstellen kann und evtl. in einem Haushalt brauchen könnte: von der Kleiderbürste über Haarbänder in allen Farben, Duschgel alle nur denkbaren Sorten, Taschenrechner, Spielsachen, Föhns, Schreibwaren…. So und hier suchen wir jetzt drei Dinge aus für jedes Kind: Buntstifte, kleine Tube (bunten!) Kleber und einen Softball. Und brauchen das, damit es gerecht zugeht, natürlich dann je 130mal. Aber kein Problem für den Besitzer, „er kennt da den Schwager seines Cousins und noch diverse andere, es dauere nur 20 Minuten, dann hätten wir alles!“ Naja, indische 20 Minuten, aber am Ende haben wir tatsächlich alles, was wir wollten! Unglaublich.

Dazwischen:

Dazwischen noch kurz Vorbereitungen treffen für und vor unserem gemeinsamen Urlaub: Züge buchen (und dann stehen wir immer noch auf der Waiting-List und haben erst zwei Plätze für den einen Zug!!!), Hemden und Kleid vom Schneider holen, Klamotten waschen, umpacken, organisieren, wer uns zum Flughafen bringt, in den Hotels anrufen (ich versteht die Inder einfach nicht am Telefon), Auto mit Fahrer für Delhi für 6 Personen suchen (oder machen wir das spontan?), verabschieden, Karaom spielen mit den großen Jungs, ein paar Souvenirs kaufen, ganz schnell aufräumen (wir durften netterweise Helenas und Jonas Raum als Gästezimmer für uns fünf haben)

Gemeinsamer Urlaub:

Die erste gemeinsame Zugfahrt sollte doch soooo schön werden! Von Delhi nach Jaisalmer im Sleeper und alles war perfekt geplant. Doch es kam anders, als gedacht…… Es wird eine tolle Woche Familienurlaub mit Situationen, die uns wirklich an die Grenzen bringen und am Ende wahrlich zusammenschweißen. Spannend, aufregend, neu.

Hier noch ein paar Eindrücke:

Gezwungenermaßen sind wir Nacht-Bus gefahren und es war unerwarteterweise doch ganz gut…und wir sind hier schon fast in Jodhpur.

Fix und Fertig in einem wahnsinnig süßen Hotel in Jaisalmer angekommen.

Ein Familientraum geht in Erfüllung: Kamelsafari in der Tharwüste und eine Nacht unterm Sternenhimmel

Eingeladen bei der Familie des Camelman

Jain-Tempel im Fort in Jaisalmer

Man ist nie alleine in Indien, besonders selten auf einem Foto….

Sogar für unser Familienhobby bleibt ein bisschen Zeit: Unser erster Cache in Indien!!

Die Denker vor dem astronomischen Bauwerk in Jaipur

Das TajMahal (man beachte, es ist wirklich nur unsere Familie auf dem Foto!)

Letzter Blick auf dem Weg zum Flughafen – für Lena wieder zurück ins Projekt und für uns nach Deutschland

Zum Schluss: Was nehmen wir mit?

Noch größeren Respekt für und Stolz auf unsere Tochter, die sich in diesem Land so selbstverständlich zurecht findet und in einem unglaublich guten Projekt wirklich sinnvolle Arbeit  leistet.

Ganz viele, tolle Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen. Eine Portin Ruhe und Gottvertrauen, dass es schon immer irgendwie eine Lösung gibt und eine große Dankbarkeit für den manchmal viel zu selbstverständlich erscheindenden Luxus der Privatsphäre in Deutschland.

Ach ja, und Sarahs Kommunionkleid:

Wir freuen uns schon wieder auf Dich, liebe Lena und sagen alle Danke, dass wir gemeinsam bei und mit Dir so eine schöne Zeit verbringen konnten!