„Caught between Cultures“ – „Zwischen Kulturen gefangen“. Das war damals die große Überschrift über vielen Englischstunden in der Oberstufe. „Caught between Cultures“ war das große Thema, über jenes man sich die zwei Jahre hinweg informierte, um das schriftliche Abitur zu meistern. Zwar habe ich letztendlich mein schriftliches Abitur in Französisch und nicht in Englisch geschrieben, trotzdem begleitete mich diese Problematik durch die zahlreichen Englischstunden in der 11. und 12. Klasse. Oft ging es dabei um Kinder, deren Eltern oder Großeltern in ein anderes Land gezogen sind, und nun die Kinder im eigenen Zuhause der Kultur des Herkunftslandes nahe waren, aber in der Schule und bei Freunden auch Erfahrungen mit der neuartigen Kultur des neuen Landes machten.

Dass ich auf eine ähnliche Situation während meines Freiwilligendienstes treffen würde, war mir damals gar nicht so bewusst. Klar wusste ich, dass sich viele Dinge verändern werden und ich viele Freiheiten und Gewohnheiten in Deutschland lassen muss. Dennoch überrascht mich die indische Kultur ständig wieder aufs Neue. Banale Dinge wie das Essen mit der rechten Hand, das Wackeln mit dem Kopf als Zeichen der Zustimmung oder das Vermeiden der Nutzung der linken Hand spielen hierbei eine untergeordnete Rolle. An solche Sachen gewöhnt man sich rasch. Hier in Indien bin ich aber auch auf eine ganz neue Mentalität gestoßen. Viele Sachen habe ich übernommen, andere wiederum würden mich wahrscheinlich auch nach 10 Jahren noch stören. Inzwischen habe ich mich auch an die für mich unangenehmen Dinge gewöhnt und sie versucht zu akzeptieren. Als ich mir überlegte, worin sich deutsche und indische Handels- und Denkweisen unterscheiden, sind mir einige Beispiele und Situationen in den Kopf geschossen. Einige wenige dieser Erfahrungen möchte ich in diesem Blogbeitrag schildern.

Am besten fange ich mit einer Sache an, die einem jeden Tag aufs Neue widerfährt. Während in Deutschland „Small-Talk“ mit einem Gruß und der Frage nach dem Wohlbefinden oder Wetter startet, beginnt es in Indien meist mit der Frage, ob man bereits gegessen habe. Das Essen spielt hier eine tragende Rolle. Sappadiya?“ in Tamil oder „Had your lunch?“ in Englisch. Mindestens dreimal pro Tag höre ich eine dieser zwei Ausdrucksweisen. Lustigerweise erwarten die Inder auch nur eine Antwort auf die Frage und die heißt „Ja!“ oder alternativ ein Wackeln mit dem Kopf. Inzwischen antworte ich auch nur noch so auf diese Frage. Anfangs bin ich noch oft ins Grübeln gekommen. Zum Beispiel dann, wenn einem diese Frage, um 17 Uhr nachmittags gestellt wurde. Meint er jetzt das Mittagessen, das Abendessen oder doch gar den Tee und die Snacks?

Ein weiterer Punkt, in dem sich meine persönliche Gewohnheit und Präferenz und die eines Großteils der Inder unterscheiden, ist das Timemanagement. Wer mich kennt, der weiß, dass mir Pünktlichkeit und Ordnung sehr wichtig sind. Ich bin – zugegeben – ein sehr ungeduldiger Mensch. Und dieser Freiwilligendienst hat mich in dieser Hinsicht auf die ein oder andere Probe gestellt. Selten fängt eine Feier, der Start zu einer Reise oder das gemeinsame Arbeiten zur ausgemachten Zeit an. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen verzweifelte ich schier an diesem Verhalten.

Es war der Tag vor der Jahresfeier des Colleges und Father Michael bot uns an, beim Theaterstück eine kleine Nebenrolle einzunehmen. Wir willigten natürlich gerne ein. So ging es morgens dann zur Probe mit ca. zehn weiteren Collegestudenten und einer Lehrerin. Felix und ich sollten zwei indische Herren spielen, die sich an einem Teashop etwas bestellen. Wir beide bekamen jeweils einen kurzen Satz. Meiner lautete: „Master! Enakku ure Wada!“ Grob übersetzt: „Meister, für mich ein Teiggebäck!“ Nach wenigen Sekunden konnte ich den Satz in- und auswendig korrekt aufsagen. Klar, war ja nicht schwer. Allerdings mussten wir uns bei sämtlichen Proben den Rest des 20-minütigen Stücks auch anschauen, um an unserer Stelle dann für 60 Sekunden insgesamt auf der Bühne zu stehen. Zudem war ständig ein Schüler irgendwo anders, sodass von den drei Stunden, die wir zu Verfügung hatten, wahrscheinlich effektiv nur eine genutzt wurde. Mittags stand dann die erste Gesamtprobe an mit allen anderen, die auch etwas aufführen wollten (Tänzer, Sänger, usw.). Um 14 Uhr war der geplante Start. Die Probe begann so richtig aber erst 45 Minuten später. Das Theaterstück war als letztes dran. Allerdings mussten wir nicht nur der Aufführung der anderen beiwohnen, sondern auch die anschließende ausführliche Bewertung von den Fathers anhören. Das dauerte und dauerte. Um 15:45 Uhr waren dann endlich wir dran, obwohl das College eigentlich um 15:30 Uhr zu Ende war und viele der Studenten auf ihren Bus mussten. Wir führten das Stück auf und wurden darauf hingewiesen, dass es viel zu lang ist. Wir sollten es auf 10 Minuten herunter kürzen. Ich hoffte fast insgeheim darauf, dass unser Part von dieser Kürzung betroffen sein wird, da mir die Proben am anstehenden erspart bleiben würden. Natürlich blieb er drin! Am Folgetag war morgens Generalprobe. Geplant um 10:30 Uhr. Nachdem wir anderthalb Stunden mit den anderen auf dem Campus herumlungerten, waren wir endlich dran. Doch dann fing es ausgerechnet in diesem Moment an zu regnen. Wir probten dann noch einmal im Klassenraum und nicht auf der draußen aufgebauten Bühne. Am Mittagessen sagten wir, dass sie uns einfach holen sollen, wenn alle da sind und wir dann nochmal proben. Als wir um 15 Uhr geholt wurden, waren trotzdem nur noch drei weitere Schauspieler da und es kam bis zum Beginn des Programms um 18:30 Uhr zu keiner weiteren Probe! So warteten wir den ganzen Mittag in unseren – dem Anlass unangemessenen Lungis (eine Art Rock, den die indischen Männer tragen, aber im College verboten ist, da Hemd und lange Hosen Pflicht sind) in einem Klassenzimmer auf den Beginn einer Probe, die niemals stattfinden sollte.
Felix beim Tee trinken und ich beim "Wada" essen während des Theaterstücks!

Felix beim Tee trinken und ich beim „Wada“ essen während des Theaterstücks!

 

Der Auftritt ging übrigens glatt über die Bühne und der Satz „Master! Enakku ure Wada!“ hat sich zum Running Gag zwischen Studenten, Fathers und uns aufgeschwungen. Denn alle fanden es total lustig, dass wir in indischen Kleidern herumliefen und Tamil redeten. Trotz des versöhnlichen Endes wurde an diesen Tagen mein ordnungs- und pünktlichkeitliebendes Gemüt auf die wohl bisher härteste Probe gestellt. Ich frage mich immer noch, warum man nicht einfach einen strukturierten Plan mit den Zeiten für die Proben der verschiedenen Gruppen ausgearbeitet und den überall klar und deutlich kommuniziert hat. Aber den meisten Indern scheint das nichts auszumachen …

Ein anderes Phänomen – was ich hingegen sehr schätze – ist das Miteinander und Vermischen der Religionen zumindest hier in der Region, in der ich lebe. In Indien gibt es ca. 80% Hindus und nur 2,3 % Christen. Hier in Keela Eral dürfte der Prozentanteil der Christen zwar etwas höher angesiedelt sein, aber trotzdem sind die Hindus klar in der Überzahl. Doch wer denkt, dass deswegen die Kirche am Sonntag leer bleibt, liegt falsch. Ein Großteil der Gemeinde in Keela Eral sind gar keine Christen, sondern Hindus. So verhält es sich auch in den umliegenden Dörfern, den sogenannten „Substations“. Die Menschen hier schätzen die Anwesenheit der Salesianer und die Arbeit, die sie verrichten. Die Menschen haben oft eine intensive Beziehung zu Gott und besuchen viel regelmäßiger den Gottesdienst als es die meisten Christen in Deutschland beispielsweise machen. Auch die Verehrung von verschiedenen Heiligen wie der Mutter Gottes oder Giovanni Don Boscos hat hier eine sehr starke Ausprägung. Nach jedem Gottesdienst laufen die Menschen zu den zwei Statuen der beiden und berühren diese.

Ein weiteres cooles Element der indischen Kultur ist die Art einander zu rufen bzw. anzusprechen. Vor allem bei der Kommunikation mit fremden Personen, deren Name man nicht weiß, tritt dieses Element auf. So sprechen Tamilen eine ältere Person mit „Anna“ für Männer und „Akka“ für Frauen an. „Anna“ bedeutet großer Bruder und „Akka“ große Schwester. Das gleiche andersherum: „Thambi“ für kleiner Bruder, „Thangachi“ für kleine Schwester. Man mag meinen, dass das einfach eine unkomplizierte Art ist, jemanden anzusprechen und ins Gespräch zu kommen. Allerdings sind diese Bezeichnungen meiner Meinung nach auch ein gutes Spiegelbild des Umgangs – vor allem zwischen den Generationen – hierzulande. Es wird hier auch als Zeichen des Respekts gewertet, jemand älteres als einen solchen auch anzuerkennen. Außerdem stellen diese Bezeichnungen auch die Offenheit der Gesellschaft wider. Klar, die Einfachheit der Kommunikation ist sicherlich auch ein Grund dafür, aber es kreiert meiner Meinung nach auch eine stärkere und respektvollere Beziehung zwischen zwei Gesprächspartnern. Ich selbst profitiere auch ungemein von dieser Sache. Besonders in den Anfangstagen als ich in der Grundschule unterrichtet habe und die Namen der vielen Kinder noch nicht kannte, habe ich mit „Thambi“ und „Thangachi“ nur so um mich geworfen, um die Schüler zu ermahnen und ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Sobald man den Namen eines anderen weiß, hängen vor allem Kinder gerne diese Ausdrücke an den Namen hinten dran. So werde ich von manchen Kindern „Stefananna“ gerufen.

Bei so vielen Schülern konnte man mal den ein oder anderen Namen vergessen ...

Bei so vielen Schülern konnte man mal den ein oder anderen Namen vergessen …

„Caught between Cultures?“. Bewusst habe ich der Überschrift noch ein Fragezeichen angefügt. Ich fühle mich nämlich nicht gefangen. Es gibt zwar die Momente, in denen man sich etwas überrollt und fremd in der Kultur hier fühlt, aber dennoch gibt es viele erstrebenswerte Elemente der Kultur hier vor Ort, die einen Platz in meinem Leben bekommen werden. Auch wenn ich vermutlich nie so spontan und entspannt sein werde wie meine Freunde hier in Keela Eral, so hat mir die indische Kultur trotzdem viele verschiedene Dinge gelehrt. Und dieser Blogbeitrag war nur ein kleiner Ausschnitt aus diesem vielseitigen Katalog.

Zum Schluss: Viele Grüße aus Indien!

Zum Schluss: Viele Grüße aus Indien!