Anna und Lydia in Indien

Erfahrungen aus einem faszinierenden Land

Kinderarbeit – Unsere Erlebnisse

Dies ist wahrscheinlich der aufwändigste und schwierigste Blogeintrag, den wir bis jetzt geschrieben haben. Wenn ihr ihn fertig gelesen habt, könnt ihr hoffentlich verstehen, wieso uns das Thema so am Herzen liegt. Wir haben lange überlegt, wie wir was schreiben und hoffen, dass ihr einen guten Einblick bekommt.

Unser Projekt konntet ihr ja schon in diesem Post kennenlernen. Doch ein wichtiger Bestandteil unseres Alltags spielt sich außerhalb des Projekts ab:

DSC02716Jeden Tag (Montag bis Samstag) unterrichten wir zweieinhalb Stunden in einer Child-Labour-School in Vilathikulam, die von vier St. Charles-Sisters geführt wird.

Das Thema Kinderarbeit

Es gibt Statistiken, die behaupten, dass Indien das Land mit der größten Rate an Kinderarbeit ist. Wir können nicht sagen, ob das stimmt. Verschiedenen Schätzungen zufolge sind in Indien ca. 30 Millionen Kinder, im Alter von 5 bis 14 Jahren, betroffen. Auch das sind nur Zahlen. In diesem Blogeintrag wollen wir aber lieber das erzählen, was wir hier erleben oder von den Einheimischen, die täglich damit konfrontiert sind, erfahren.

Unter dem Thema Kinderarbeit stellt man sich oft dreckige, überfüllte Stofffabriken in den sogenannten Entwicklungsländern vor, die von populären, europäischen Klamottenherstellern betrieben werden. Dabei betrifft Kinderarbeit deutlich mehr Bereiche.

Viele „Arbeitsplätze“ sind saisonal, vor allem in Bereich der Landwirtschaft. Hier in Vilathikulam gibt es zum Beispiel keine großen Fabriken und viele Menschen leben von der Landwirtschaft. Es muss beispielsweise auf Bananenplantagen geschuftet oder Kokusnusssaft und andere Früchte zu Alkohol, Süßigkeiten o.ä. verarbeitet werden. Die Kleinen arbeiten teilweise bis zu 12 Stunden am Tag auf den Feldern, in Steinbrüchen, bei der Holzkohleherstellung oder fertigen Streichholzschachteln an. Sie bekommen hier 50 bis 100 Rupien am Tag (ca. 1 Euro). Wie viel sie in den großen Stofffabriken bekommen, wissen wir nicht, doch es wird nicht viel mehr sein. Die Arbeitsbedingungen sind prekär und häufig (v.a. im Steinbruch) ziemlich gefährlich. Auch die Anstrengungen auf den Feldern übersteigen die Belastbarkeit eines Kindes um ein Vielfaches. Bettelbanden dagegen sind eher in Großstädten mit vielen Touristen und nicht hier auf dem Land ein Problem.

Die Direktorin der Schule hat uns erzählt, dass es vor 15 Jahren noch wesentlich größere Probleme gab, doch dass sich die Situation mit der Einführung der Schulpflicht und einem Recht auf kostenlose Schulbildung langsam verbessert. Ein Großteil der Eltern versteht allmählich, dass Bildung notwendig ist. Trotzdem sind viele Eltern finanziell gezwungen, ihre Kinder weiterhin zum Arbeiten zu schicken, um die Familie auseichend ernähren zu können. Die meisten Kinder würden gerne zur Schule gehen, doch es wird ihnen verwährt. Andere erkennen leider den Sinn hinter der Bildung noch nicht, weil sie sehen, dass ihre Eltern auch ohne Bildung Geld verdienen. Einer unserer Fathers erklärte uns, dass sich Indiens Gesellschaft in einem spürbaren Entwicklungsprozess befindet und gerade erst die erste Generation an gebildeten jungen Leuten (auch auf dem Land in allen gesellschaftlichen Schichten) heranwächst. Dabei bleibt Aufklärung auch weiterhin ein wichtiger Ansatzpunkt.

Die Childlabour-School

Nicht nur die Arbeitsbedingungen sind das Problem, sondern vor allem fehlt den Kindern, die lange arbeiten mussten, die grundlegende Bildung und damit die Möglichkeit, später in eine reguläre Schule einzutreten und durch gute Bildung aus dem Teufelskreis der Kinderarbeit herauszukommen. Sie bleiben arm und auf die Arbeit angewiesen und werden ihre Kinder wegen ihrer Armut höchstwahrscheinlich auch zum Arbeiten schicken müssen.

Das Gebäude der Child Labour School.

Das Gebäude der Child Labour School.

Die Childlabour-Grundschule, an der wir unterrichten ist keine staatliche, reguläre Schule, sondern eine Grundschule für ehemalige Kinderarbeiter, die hier langsam ihre Bildungsdefizite aufarbeiten sollen, um irgendwann eine normale Schule besuchen zu können.

Ganz viel Spaß beim Kettenfangen auf dem "Pausenhof" vor der Schule

Ganz viel Spaß beim Kettenfangen auf dem „Pausenhof“ vor der Schule

Das Convent

Neben den 18 ehemaligen Kinderarbeitern, die oft arme, aber intakte Familien haben und täglich nach Hause gehen können, gibt es noch das Convent, in dem 45 Kinder, die kein intaktes Zuhause besitzen, leben und dort Fürsorge und Bildung erhalten.

Ein neues Gebäude des St. Charles Convent ist daneben im Bau.

Ein neues Gebäude des St. Charles Convent ist im Bau.

Die Kinder haben sehr unterschiedliche Geschichten. (Dazu später mehr) Gemeinsam ist ihnen, dass ihr Familienhintergrund problematisch ist oder sie keine Eltern mehr besitzen. Durch die Probleme Zuhause haben viele die Schule vernachlässigt, weshalb diese „Dropouts“, wie die Sister sie genannt hat, auch spezielle Förderung benötigen, um sich die grundlegende Bildung anzueignen.

Ganz viel Platz zum Toben und im Hintergrund das renovierungsbedürftige Convent-Gebäude.

Ganz viel Platz zum Toben und im Hintergrund das renovierungsbedürftige Convent-Gebäude.

Was kann gegen Kinderarbeit unternommen werden?

Sehr wichtig für Eltern und Einheimische bleibt die Aufklärung. Zum Beispiel wird an den sogenannten „Parentsdays“ mit den Eltern gesprochen und die Vorteile von Bildung für die Kinder aufgezeigt. Des Weiteren werden die Kosten für die Bildung übernommen. Die Kinder der sehr armen Familien können kostenlos im Convent leben und es werden zum Beispiel auch Arztkosten etc. bezahlt. Wenn die Childlabour-Kinder plötzlich unentschuldigt fehlen, fährt jemand zu den Arbeitsplätzen der Kinder und holt sie dort ab. Oft wird dann auch mit der Polizei gedroht oder diese eingeschaltet, wenn die Kinder nicht gehen gelassen oder weiter beschäftigt werden, denn Kinderarbeit ist ja gesetzlich verboten.

Und natürlich muss das auch erwähnt werden: Wenn wir in Europa einen verantwortungsvollerern Umgang mit den Produkten (z.B. mit Klamotten, Spielzeug, Bananen, Nahrung, Kohle etc.) leben würden und nicht unsere Augen davor verschließen, dann würde das langfristig die Nachfrage sinken und die Situation der Billiglohnkräfte (z.B. Kinder) höchstwahrscheinlich verbessern. Und dass die Kinder die Arbeitsplätze brauchen, sollte nicht als Ausrede in Europa benutzt werden. Das was sie benötigen, ist die Möglichkeit eine Schule zu besuchen und eine unbeschwerte, arbeits- und gefahrenfreie Kindheit erleben zu können. Wir hoffen mit diesem Blogeintrag zu verhindern, dass das Thema verdrängt wird. Ich verlange nicht, dass alle sofort aufhören in den billigen Klamottenläden einzukaufen, denn oft haben die teuren Marken mindestens genauso schlechte Produktionsbedingungen. Sinnvoller wäre es den gesamten Konsum etwas herunterzuschrauben und bewusst und informiert einzukaufen. Muss man jedem Trend folgen? Brauche ich wirklich dieses neue Handy mit den paar neuen Funktionen, wenn mein altes noch funktioniert? Muss der Kaffee To- Go gekauft werden oder kann man nicht auch ein kleines Fairtrade-Café in seiner Stadt unterstützen? Hab ich nicht schon genug Klamotten im Schrank? Anstatt sich das fünfte billige Shirt zu kaufen, kann man sich auch nur ein richtig schönes Teil kaufen oder einen Second-Hand-Shop nutzen.

Ich hoffe, dass die Gesellschaft allmählich zu einem Umdenken vom egoistischen Billigkonsumwahn zum bewussteren Konsum kommen wird. Das hilft nicht nur gegen Kinderarbeit, sondern spart Ressourcen und schon das Klima. Und so profitieren wir in unserer Zukunft dann auch wieder davon.

Der Unterricht

Größtenteils wird der Unterricht auf dem Boden gehalten. Meist teilen wir die Klasse in zwei Gruppen auf und können die Kids so individueller fördern.

Größtenteils wird der Unterricht auf dem Boden gehalten. Meist teilen wir die Klasse in zwei kleinere Gruppen auf und können die Kids so individueller fördern.

Wie schon erwähnt unterrichten wir in keiner normalen Schule, sondern haben auch innerhalb der Klassen ein sehr unterschiedliches Niveau.

Wir geben Englischunterricht, was nicht immer einfach ist, da nicht alle das englische Alphabet beherrschen (Tamil hat eine andere Schrift). Stellt euch vor, ihr hättet in der dritten Klasse russisch oder chinesisch lernen sollen, das wäre nicht für alle einfach gewesen.

Es ist immer eine Herausforderung für unsere Nerven und eine Geduldsprobe während der Unterrichtszeit. Aber wir lieben die Kinder sehr und sie sind so unglaublich dankbar. Jeden Tag wenn uns die Kinder entgegenrennen, wenn wir mit dem Fahrrad an der Schule ankommen, wird uns bewusst, wieso wir dieses Jahr machen 🙂

Klatschspiele sind vor allem bei den Mädels hoch im Kurs.

Klatschspiele sind vor allem bei den Mädels hoch im Kurs.

Unterricht in einem Klassenzimmer mit Bänken, ausnahmsweise sehr geodnet ;)

Unterricht in einem Klassenzimmer mit Bänken, ausnahmsweise sehr geodnet 😉

Im Unterricht arbeiten wir mit Bildern, Songs, Memorys, Spielen und Plakaten. Unser Fokus in der vierten und fünften Klasse liegt gerade auf Schreib- und Lesetraining.

Immer mal wieder fällt der Unterricht aus, was daran liegt, dass es hier so viele schöne Feste, Wettkämpfe oder Geburtstagsfeiern gibt, an denen dann ein Programm mit viel Gesang und vielen Tänzen aufgeführt wird. Von dem Rythmusgefühl der Kinder werden wir jedes Mal aufs Neue umgehauen.

Das sind die Kinder

Quatschmacher :P

Quatschmacher 😛

Für uns ist kaum vorstellbar, dass so viele dieser lustigen und aktiven Kids die Zeit ihrer kostbaren Kindheit, in der wir in Deutschland unbekümmert gespielt und getobt haben, für körperliche Arbeit opfern mussten. Klar wir wussten schon vorher von dem Problem der Kinderarbeit, aber hier sind wir ganz anders damit konfrontiert.

Fotoshootings sind immer sehr beliebt :)

Fotoshootings sind immer sehr beliebt 🙂

Natürlich sind sie in erster Linie „normale“ Kinder, die spielen, lachen und auch mal Blödsinn machen. Doch dann gibt es kleinere Momente, die zeigen, dass sie doch eine andere Kindheit erlebt haben als wir:

Lakshmi mit guter Laune

Lakshmi mit guter Laune beim Tanzen mit Lydia

Ein süßes Mädchen, es heißt Lakshmi*, aus unserer Klasse fängt beispielsweise oft (meist grundlos) zu weinen an. Die anderen Kids erklärten uns, als wir anfangs noch nicht damit umzugehen wussten, mit ihrem super Englisch „Mommy, Daddy no!“. Eine Sister erzählte uns dann einen Teil ihrer Geschichte.

Lakshmi hat noch zwei ältere Geschwister, die auch im Konvent leben. Ihre Mutter hatte Krebs und verstarb als das älteste ihrer Kinder noch nicht mal 10 Jahre alt war. Der Vater hatte Probleme mit dieser Situation umzugehen und begann zu trinken. Es passierten noch einige kleinere Vorfälle im Leben von Lakshmi, die wir nicht genau wissen. Leider erhängte sich ihr Vater und ließ drei kleine Kinder als Waisen zurück. Eine Lehrerin hatte in ihrem Dorf von der Situation erfahren und brachte sie zum Convent. Heute ist Lakshmi acht Jahre alt und ist gerade sehr bemüht, (mit einigen Schwierigkeiten) Englisch lesen zu üben. Sie hat ein süßes Lachen, das sie oft zeigt. Sie wirkt dann sehr fröhlich. Doch von der einen auf die andere Sekunde fängt sie dann, z.B. im Unterricht, an zu weinen.

Jedes Kind hat seine eigene Geschichte und seine Wege, damit umzugehen. Ein ähnliches Schicksal wie Lakshmi teilen aber viele der Kinder (v.a. im Convent).

Für Weihnachten wollen wir den Kindern eine Freude machen und ihnen ein Mäppchen mit Stiften, einem Spitzer und einem Radiergummi schenken. Denn nur wenige besitzen eigene Stifte, geschweige ein Mäppchen. Wahrscheinlich würde sich kein Kind in Deutschland über so etwas freuen, doch hier ist das ein sinnvolles Geschenk für den Unterricht, mit dem man den Kindern eine riesige Freude machen kann. Wenn jemand für einige Mäppchen noch spenden möchte oder diese Aktion unterstützen möchte, kann er sich bei uns melden oder online spenden.

Die Informationen haben wir teilweise in Gesprächen mit den Kindern, aber hauptsächlich von den besser englisch sprechenden Einheimischen oder den Sisters erfahren und nach einer Recherche im Internet und der Sammlung unserer Alltagseindrücke zusammengetragen.

*Lakshmi heißt in Wirklichkeit anders, doch zu ihrem Schutz haben wir den Namen geändert.

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2 Kommentare

  1. Albert Stephinger

    Liebe Lydia, Deine berührenden Zeilen über Kinderarbeit/Straßenkinder in Indien habe ich gelesen.
    Über 20 Jahre war ich bei einem Kinderarbeit/Straßenkinderprojekt in Ecuador (Kolping Miesbach),das aus verschiedenen Gründen im letzten Jahr (leider) beendet worden ist.

    Zu Kinderarbeit ist generell viel zu sagen. Man wird sie aus der Ferne nicht abschaffen können. Es geht wohl darum,sie einzudämmen und die Bedingungen zugunsten der Kinder zu verändern.
    (Dasselbe Problem kennt man bei einem Landshuter Schulprojekt in Bolivien.)
    Das heißt,das Standards (oft nur Mindeststandards) eingehalten werden,dass die Arbeitszeit beschränkt wird,dass die Bezahlung angehoben wird, dass Zeit für Schulbesuch/Spiel/Arzttermin bleibt.
    Schon das ist eine gewaltige Herausforderung!

    Der Zusammenhang mit Billigkleidung ist kompliziert;aber auch da rücken Abkommen mit Firmen in Europa und vor Ort ins Zentrum
    (gewerkschaftliche Organisation, Mindestlöhne, Arbeitszeitregelungen..)die wie bei allen fair-trade-Produkten überprüft werden müssen. Die Bundesregierung hat teils das Thema erkennt,aber es geschieht noch viel, viel zu wenig. Noch wird oft auf wenig wirksame freiwillige Vereinbarungen gesetzt.
    Das Thema ist riesig, auch die Frage der Rolle von Mädchen in Indien (Artikel in diesen Tagen in der SZ „Wir wollten dich nicht“-über spezielle Diskriminierung von Mädchen) wird Dich sicher beschäftigen.

    Als ich vor gut 30 Jahren erstmals länger in sog. Entwicklungsländern(als Tourist) war – Guatemala z.B. – hat mich die große Zahl vaterloser und
    in geringerer Zahl von Vollwaisen betroffen gemacht.
    Kinderarbeit hat es ja bis ins 20. Jahrhundert in Deutschland, der Schweiz gegeben und teils länger in Südeuropa.

    Weiter alles Gute für Deine wichtige Arbeit!

  2. Nici Braun

    Hallo Anna und Lydia,
    ich finde das eine richitg tolle Idee mit den Weihnachtsgeschenken! … und würde auch gerne was spenden – wo soll ich das Geld hin überweisen?
    Ich weiß noch , als ich unserem Joschua in Grundschulzeiten mal vorgeschlagen hatte, dass er sich doch ein neues Mäppchen zu Weihnachten wünschen könnte.. und er geantwortet hatte “ aber Mama, das wäre ja Wunsch-Verschwendung“. Wenn man hier aufwächst, dann nimmt man den Luxus als völlig normal an und neidet auf diejenigen, die noch mehr haben – wie hilfreich wäre da eine Woche bei Euch zu verbringen!
    Also macht weiter so Mädels!
    Herzliche Grüße
    Nici Braun

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